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Berlin Daily 04.10.2024
Kinga Tóth. ALL MACHINE

19 Uhr: Kinga Tóth ist Künstlerin und Soundpoetin, die ihre Texte mit Objekten sowie Video- und Soundinstallationen verbindet und diese auch performt. daadgalerie, Oranienstr. 161, 10969 Berlin

Forgive Us Our Trespasses im HKW. Heimaten ohne heimisch

von Maximilian Wahlich (03.10.2024)


Forgive Us Our Trespasses im HKW. Heimaten ohne heimisch

Mansour Ciss Kanakassy, Detail der Installation Le Laboratoire de Déberlinisation. Fabrique du Futur (2024). Courtesy Mansour Ciss Kanakassy. Ausstellung Forgive Us Our Trespasses / Vergib uns unsere Schuld, Haus der Kulturen der Welt (HKW), 2024. Foto: Hannes Wiedemann/HKW

Ein weißer Cis-Mann, akademisch sozialisiert, Mittelschicht, geht ins Museum. Es ist seine Institution, für ihn gemacht, ein Tempel der Bildung. Hier führt er sein Wissen gerne spazieren – hier kann er sich seines Wissenskanons vergewissern, hier findet er Namen und Erzählungen, die er selbstsicher bedienen und weitergeben kann. Er kennt sich aus, ihm macht keiner etwas vor. Hier fühlt er sich als Mann von Welt.

Der weiße Mann geht heute ins Haus der Kulturen der Welt, ihn interessiert die aktuelle Ausstellung „Forgive us our trespasses / Vergib uns unsere Schuld“. Sie ist Teil des groß angelegten Projekts „heimaten“, das einen neuen Begriff von „Heimat“ begründen will, der nicht mehr eine Schwelle zum Unbekannten und Fremden betont und durch den das Innere nicht mehr als „Heim“ einer scheinbar homogenen Norm gelesen wird.
Die Ausstellung erweitert dieses Konzept ergänzt um eine Vielzahl von Perspektiven. Nunmehr gibt es den Plural „Heimaten“ und sie zeichnen sich aus durch den Übertritt, das Eindringen (trespass) und die damit entstehende Pluralität.

Die Heimat in der Mobilität – die Arbeit von Patricia Gomez und María Jesús González zeigt insgesamt drei große Putzplatten, abgelöst von Wänden aus Internierungslagern für Migrant*innen. Darauf zu sehen sind krakelige Zeichnungen, Botschaften und Informationen von Menschen, die hier auf ihrer Flucht leben mussten. Zwei Videos zeige das Ablösen des Putzes, ein archäologisches Verfahren, sowie Fotografien und randeringartige Nachstellungen von Erinnerungen an die Orte. Gespenstisch leer, künstlich scheinen sie wie eine vage Ahnung aus einem längst vergangenen Leben.

Sehr greifbar ist Mansour Ciss Kanakassys kleiner Kiosk mitten im Foyer. Der Verkaufsstand ist belebt und zieht Aufmerksamkeit auf sich. Es geht um Geld. Genaugenommen um die vom Künstler konzipierte Währung Afro. Slogans buhlen um das Interesse der Besucher*innen: „Holen Sie sich jetzt Ihr Stück vom Glück mit dem Afro!“, „Wie rette ich mein Geld vor der Inflation?“ oder etwas zwielichtig: „Sofortkredite von Afro-Express eignen sich besonders, um langersehnte Träume oder notwendige Anschaffungen schnell zu realisieren“. Die Präsentation verweist auf ein bekanntes Ungleichgewicht auf dem globalen Handelsplatz. Westliche Länder kontrollieren Währungskurse und werben bildmächtig für ihren Wertekanon. Hoffnungen werden gezielt angestachelt und die Verfügbarkeit von Gütern gesteuert. Mit Humor und Spitze kommentiert der Stand die Machenschaften ehemaliger Kolonialmächte.

In Nasan Turs Filminstallation geht es um die Sichtbarkeit muslimischer Gemeinschaften. Zehn Fernseher zeigen Eingangsbereiche islamischer Einrichtungen in deutschen Städten. Diese Orte sind kaum zu identifizieren, sie heben sich nicht von ihrer Umgebung ab, tragen keine Beschriftung. Sie betten sich in die triste Einöde, in das komplett unspektakuläre Geschehen. Tur fragt, ob diese Unsichtbarkeit von einer Unterdrückung zeugt, von einer Ausgrenzung der Gesellschaftsgruppe.

Identität und „Heimat“ sind für alle Menschen anders besetzt. Surya Suran Gied zitiert mit ihren Gemälden Motive aus dem südkoreanischen Spiel „Godori“. Gied, die mit ihrer Mutter nach Deutschland kam, erinnert sich an ihre in Südkorea lebende Großmutter sowie an ihre eigene Kindheit in beiden Ländern. Dargestellt werden die Motive durch eine grafische Klarheit, Flächen haben scharfe Umrisse und deutliche Farben.

Das HKW ist gastfreundlich. Die ausgestellten Kunstwerke der über 40 Künstler*innen stammen aus unterschiedlichsten Positionen – zahlreiche Länder, Politiken, Bildpraxen und -traditionen kommen zusammen und werden in den Begleittexten knapp skizziert. Doch sie geben unserem weißen Besucher kein Gefühl wohliger Vertrautheit. Der weiße Mann erkennt nicht alle Codes und Worte. Er beginnt, seine antrainierte Deutungshohheit zu hinterfragen. Das Museum wird zur Heimat von vielen (akademisierten) Weltbürgern. Passend dazu platziert Babá Murah, Künstler und spirituelles Oberhaupt einer afrobrasilianischen Glaubensgemeinschaft in Berlin, insgesamt acht Altäre in den Räumen des HKW. Diese rituellen Räume laden Besuchende ein, mit verschiedenen Gottheiten in Kontakt zu treten.

Künstler*innen:
Ibrahim Ahmed, Esvin Alarcón Lam, Ana Alenso, Ulf Aminde, Myriam Omar Awadi, Casa Kuà, Mariana Castillo Deball, Isaac Chong Wai, Steven Cohen, Lizza May David, Victor Ehikhamenor, Jessica Ekomane, Theo Eshetu, Alfredo Esquillo Jr., FOKN Bois, Hikaru Fujii, Dani Gal, Surya Suran Gied, Patricia Gomez, María Jesús González, Olivier Guesselé-Garai, Dorothy Iannone, Leiko Ikemura, Mansour Ciss Kanakassy, Rebecca Pokua Korang, Ananias Léki Dago, Søren Lind, Antje Majewski, Shehzil Malik, Sliman Mansour, Babá Murah, I Gusti Ayu Kadek Murniasih, Nazanin Noori, Ahmet Öğüt, Tanja Ostojić, José Alejandro Restrepo, Felix de Rooy, Larissa Sansour, Ahlam Shibli, Sim Chi Yin, Nedko Solakov, Andrew Tshabangu, Linda-Philomène Tsoungui, Nasan Tur, Sandra Vásquez de la Horra

Forgive Us Our Trespasses / Vergib uns unsere Schuld
Von (un)wirklichen Grenzen, (Un)Moral und anderen Überschreitungen

14.9.–8.12.2024

Öffnungszeiten:
Mi.–Mo. 12:00–19:00

Haus der Kulturen der Welt
John-Foster-Dulles-Allee 10
10557 Berlin
www.hkw.de

Maximilian Wahlich

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