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Berlin Daily 26.04.2024
Lesung mit Jan Kollwitz

19 Uhr: An­läss­lich des To­des­ta­ges von Käthe Kollwitz liest ihr Urenkel aus den Brie­fen und Ta­ge­bü­chern seiner Ur­groß­mut­ter. Käthe-Kollwitz-Museum | Spandauer Damm 10 | 14059 Berlin

Zwischen den Jahren: Von Januar bis Dezember 2019

von Urszula Usakowska-Wolff (03.01.2020)
vorher Abb. Zwischen den Jahren: Von Januar bis Dezember 2019

Free Update, Installationsansicht, Maschinenhaus M1, KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst, Berlin , Detail aus Sugar Salon, Foto: kuag

Wie ein überlebensgroßes Passbild sieht das Video-Konterfei des Mannes aus, das am Anfang der Ausstellung Free Update präsentiert wird. Er trägt ein blaues Hemd mit Schulterklappen und ein Cap mit dem Emblem „Özel Güvenlik“. Sein Gesicht ist fast regungslos, seine Augen sind zuerst geschlossen, dann öffnet er sie und scheint die Betrachterinnen und Betrachter zu fixieren. Der Uniformierte wirkt selbstsicher und bitterernst, denn er verkörpert die Macht, mit der ja nicht zu spaßen ist. Von Zeit zu Zeit flüstert er mit einer seltsamen, kindlichen Stimme: „We are in heaven. Why are we in heaven?“, und der Hauch eines Lächelns huscht über seinen Mund. Am Ende des sechsminütigen Videos hebt der mysteriöse türkische security man seine Augen gen Himmel.

Fremde Stimme im eigenen Körper

Der Film Heaven (2013), mit dem die Einzelausstellung von Bjørn Melhus im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst beginnt, ist ein unverkennbares Werk dieses Künstlers, dem es immer wieder gelingt, Dinge, die nicht zusammengehören, unter eine Kappe zu bringen. Er schafft ein unverwechselbares Kunstuniversum, in dem die Übergänge zwischen Komik und Tragik, Vertrautheit und Unheimlichkeit, Wirklichkeit und Fantasie, Skurrilität, Absurdität und Seriosität, Humor und Horror fließend sind. Bjørn Melhus (* 1966 in Kirchheim/Teck) schöpft aus dem riesigen Fundus der Popkultur. Seine Inspirationsquellen sind US-amerikanische Filme, TV-Serien, Verkaufsshows und YouTube-Videos, was nichts Außergewöhnliches ist, denn das tun andere Künstler und Künstlerinnen auch. Die Einzigartigkeit seines Oeuvres beruht darauf, dass er, mit einigen wenigen Ausnahmen, in seinen Filmen die meisten Rollen selbst spielt. Melhus ist ein talentierter Verwandlungskünstler, der mal als Mann, mal als Frau, mal als Bär oder ein anderer schräger Vogel auftritt. Der Ausgangspunkt seiner gleichermaßen unterhaltsamen, verführerischen, schaurig-süßen und stets aktuellen Videoarbeiten sind Audiofragmente, die er bei seinen Recherchen im World Wide Web findet. Die schneidet er auf ein Minimum zusammen und drückt sozusagen den geliehenen Stimmen seinen eigenen Körper auf. Auf diese Weise bringt Bjørn Melhus zum Ausdruck, wie sich das Individuum in Zeiten der medialen Infantilität sprachlich auflöst und zu einer Phrasendreschermaschine mutiert.


Bjørn Melhus, SUGAR, 2019, Production Still
© Bjørn Melhus / VG BILD-KUNST, Bonn, 2019, Foto: Ralf Henning


Banales aus der Internetblase

Mit einer fremden Stimme spricht auch die wie ein Hampelmann vor einem pulsierenden und knalligen Hintergrund zappelnde Figur im Video Can You See My Art? (2018). „Es ist die Stimme einer bekannten amerikanischen Influencerin, die einen YouTube-Kanal für Produktwerbung und Lifestyle betreibt, und sich dort praktisch selbstvermarktet“, sagt der Künstler. „Influencer sind die Verlängerung der Warenwelt, menschgewordene Werbeträger.“ Zum anderen ist diese „sehr laute, bunte und schrille Arbeit eine Institutionskritik, denn Kunstmachen und Kunst so zu präsentieren, dass sie für Aufmerksamkeit sorgt, sind zwei verschiedene Sachen. Abgesehen davon geht es mir vor allem darum zu zeigen, wie unglaublich banal diese Messages sind, die wir uns da angucken oder anhören können. Und weil wir alle zum verlängerten Arm dieser Blase des Internets, dieser großen Maschine des Kapitalistischen geworden sind, ist mittlerweile der Kuschelroboter Sugar notwendig, um den Menschen das Menschliche zurückzubringen.“ Der Weg zum Sugar, Bjørn Melhus´ neuestem Werk, führt durch eine blaue Schleuse zuerst in den Sugar Salon, wo auf acht Monitoren, die wie riesige Handydisplays aussehen, das kulleräugige, weißköpfige und in Rot gekleidete Geschöpf demonstriert, was es so alles leisten kann: boxen, tanzen, meditieren, sinnieren und Gefühle ausdrücken. „Vom Kostüm her wirkt Sugar eher prekär, doch er ist einer, mit dem man sich gern anfreunden möchte“, sagt der Künstler.

Sugar, HON und ein Schwamm

So schickt er ihn in seiner 20-minütigen Mehrkanal-Videoinstallation Sugar (2019) auf eine Reise in die postapokalyptische Zukunft, die mit einem Prolog beginnt. Er besteht aus Found Footage über bewaffnete Konflikte und Katastrophen vom Anfang des 21. Jahrhunderts, die Melhus auf YouTube entdeckt hat: „Das sind alles Bilder, manche sehr grausam, die ohne Altersbeschränkungen zugänglich sind. Sie sind das dokumentarische Fundament, auf dem diese fiktive Geschichte voranschreitet.“ Es ist eine verkehrte und bizarre Welt, in der sie stattfindet: Ein Mensch namens HON (Human Organism Normal) hat sich in eine gefühllose Maschine, die KI-Maschine Sugar in einem mitfühlenden Menschen verwandelt. Sugars Versuche scheitern, HON als Freund zu gewinnen und ihn davon zu überzeugen, wieder ein von allen Sinnen Gebrauch machendes menschliches Individuum zu werden. HON, der in einem fensterlosen Bunker haust, in einem blauen Pyjama wie in einer Häftlingsuniform steckt und mit der Stimme eines Influencers „die ganze Zeit banales Zeug brabbelt“, ist emotional abgestumpft, kennt keine Nähe mehr und denkt nicht daran, sein Gefängnis zu verlassen. Doch der sympathische Roboter, der ausnahmsweise nicht von Bjørn Melhus, sondern vom Tänzer Frank Willens gemimt wird, findet letztendlich einen Freund: den domestizierten Schwamm aus HONs Wohnung. Er regt wohl Sugars erschreckenden und zugleich tröstlichen Traum von der Zukunft an: Das Leben geht in eine andere Dimension über, um, in welcher Form auch immer, fort zu bestehen.


Bjørn Melhus: Free Update, Installationsansicht / Installation view Maschinenhaus M1, KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst, Berlin
© Bjørn Melhus / VG BILD-KUNST, Bonn, 2015, Foto: Jens Ziehe, 2019


Kritisch, amüsant und brillant

Heilsversprechende Ideologien als eine neue Form der Religion, Abschottung, Manipulation und Indoktrination sind das Thema der rasanten Dreikanal-Videoinstallation The Theory of Freedom (2015). Die Stimme hat sich der rührige Transformationskünstler in diesem Fall von Ayn Rand (1905-1982) geliehen, der aus Russland stammenden US-Amerikanerin, die als Ikone des Individualismus und des ungezügelten Kapitalismus gilt. Produktiv und leistungsorientiert muss ein Mensch sein, um sein eigenes Glück und somit das höchste ethische Ziel zu erreichen. Randi, so der Name ihrer gegenwärtigen Doppelgängerin, ist eine überlebensgroße Domina, welche sogar Sterbenskranke dazu auffordert, die Philosophie des Libertarismus zu verbreiten. Diese tragikomische, fiktionalisierte Geschichte spielt in wahren Kulissen: vor einer hässlichen gated community im Osten von Istanbul und im ehemaligen Krematorium in Berlin-Wedding. Ein Teil der Parolen, die Randi der zombiehaften Männergruppe einpeitscht, stammt aus Katastrophenfilmen wie Armageddon und Deep Impact (beide 1998). Aber auch ohne dieses Hintergrundwissen ist Bjørn Melhus´ gelungene Einzelausstellung im KINDL ein unvergessliches Erlebnis. Sie zeigt nämlich, dass Kunst, die sich mit der Mediengesellschaft, ihren Opfern und Profiteuren kritisch auseinandersetzt, aktionsreich, amüsant, brillant, spannend und einfach toll sein kann. „Can You See My Art? Can you see that? It´s super impressive! My God, this is awesome! “ Ja, ja, es stimmt wirklich, was die Influencerin sagt.

Bjørn Melhus
Free Update

bis 16. Januar 2020

KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst
Maschinenhaus 1
Am Sudhaus 3, 12053 Berlin
Mi-So 12-18 Uhr
www.kindl-berlin.de

Urszula Usakowska-Wolff

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