Strubbelige Haare, ein frisches Gesicht, Blickkontakt mit der Kamera, eine klare Stimme. Die Rede ist von einer Deutschlandreise, einer Dekonstruktion Deutschlands, New York als Stadt der Nomaden, Erfolge mit einem (notorischen) Vertragsbruch beginnen, ein Staat der „Kyniker“, vor prominenten Orten posieren Leute mit dem Schild Boycott german Goods (dt. Boykottiert Deutsche Waren). Es dauert einige Minuten, um anzukommen. In den Räumen der aktuellen Sammlungspräsentation der Neuen Nationalgalerie Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft. Sammlung der Nationalgalerie 1945 – 2000 werden die Kunstwerke von geschliffenen Texten begleitet, wohlfeil eingeordnet und plötzlich spricht der Künstler im O-Ton zu uns. Zwei Filme und zwei Interviews dokumentieren Christoph Schlingensiefs (1960 – 2000) Aktion Deutschland versenken vom 9. November 1999 in New York (Datum der Pogromnacht von 1938 oder auch vom Mauerfall 1989). Die Videos zeigen nur einen Bruchteil seiner größer angelegten Deutschlandsuche ’99.
Der Film- und Theaterregisseur, Autor und Aktionskünstler ist längst Kult. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er u.a. durch Filme wie Das deutsche Kettensägenmassaker (1990), seine Operninszenierungen in Bayreuth oder seine Arbeit am Operndorf in Burkina Faso/Westafrika (seit 2009) bekannt. Herausragend ist jedoch seine radikalpolitische Mission zu Themen der europäischen Geschichte: Wiederholt ruft er zu gesellschaftspolitischen Aktionen auf, gründete mit Chance 2000 eine Partei, appellierte im Rahmen der Wiener Festwochen unter dem Titel Ausländer raus! (2000)auf einem Container für ein offenes Europa und behandelte in seiner Aktion Baden im Wolfgangsee (2000) Klassenfragen.
In Interviews springt er innerhalb eines Satzes zwischen der bigotten Friedensmission Deutschlands in den 1990er-Jahren, dem Nationalsozialismus, dem (antisemitischen) Komponisten (und Geschäftsmann) Richard Wagner, der galoppierenden Globalisierung, seinem eigenen Selbstverständnis und der Kolonialzeit hin und her. Assoziativ zusammenaddiert in kryptisch-dadaistischen Slogans. So richtig verstehen lässt sich sein Auftrag nur selten, Nachfragen werden mit neuen Rätseln beantwortet – und das ohne Ironie, ohne ausweichen zu wollen. Vielmehr ist diese Rhetorik Teil seiner künstlerischen Praxis: Er hinterfragt gewohnte Erzählweisen, verunmöglicht Lesbarkeit und Plausibilität.
Und so sind wir auch mit seiner Aktion Deutschland versenken etwas alleingelassen. Zunächst einmal hat die Performance vor Ort ebenso Kunststatus wie der überlieferte Film. Solche Sprünge in der medialen Präsenz sind für Schlingensief keine Herausforderung. In einem vor Ort gezeigten Interview erklärt er die Vielgestalt seiner Person: als Theatermacher, als Regisseur, als Schauspieler – ohne eine dieser Rollen wirklich erfüllen zu können. So sind seine Schläfenlocken bloß an den Ohren gehängte Staffagen. "Ist das provokative Aneignung?", fragt die Journalistin. Er meint, nein, da seine Kleidung offensichtlich nicht die Codes orthodoxer Juden erfülle.
Die Aktion Deutschland versenken begann mit einer sechswöchigen Theatertour durch deutsche Städte. Dabei sammelte er – eine weitere Persona seiner selbst – als wagnerianischer Siegfried und Held eines vereinten Landes repräsentative Fundstücke: Es kamen 99 Alltagsgegenstände zusammen. Abgeschlossen wurde diese „Deutschlandsuche ’99“ dann in New York 1999. Dort hat Schlingensief diese Objekte mitsamt einer Urne mit der Asche Deutschlands in einer theatralen Inszenierung auf einem Schiff in den Hudson River geworfen. Deutschland ist versenkt. Die Legende ist vorbei, aber nur symbolisch. In den beiden gezeigten Interviews betont er, dass er sich ein Bild schenken wollte. Und nun wird diese Vorstellung szenisch improvisiert – in einer Geste, in einer Andeutung. Ergänzt durch unsere Fantasie erkennen wir das größenwahnsinnige Scheitern, den Knall ohne Geräusche und die Freiheit, nicht verstanden zu werden.
Christoph Schlingensief. Deutschlandsuche ’99
02.05.2025 bis auf Weiteres
Neue Nationalgalerie
Potsdamer Straße 50
10785 Berlin
www.smb.museum






