19 Uhr: mit Anna Kokalanova: Inauguration Ceremony: School of Impermanence im Rahmen der Ausstellung "Ungovernable Ingredients". silent green Kulturquartier | Gerichtstraße 35 | 13347 Berlin
Sebastian Bieniek: „Eigentlich sind Ausnahmesituationen für mich wie Wasser für die Fische. Ich komme in Hochform. Während all die anderen den Kopf verlieren, sehe ich klarer als jemals zuvor.“
Urszula Usakowska-Wolff: Sebastian, Du bist mit Deiner 2013 begonnenen Fotoserie Doublefaced, die sich mit Gesicht und Maske befasste, international bekannt geworden. In Deinen neueren Arbeiten sind Menschen zu sehen, die von mit an Tentakel erinnernden Händen in schwarzen Handschuhen umschlungen werden. Diese Bilder haben eine verblüffende Aktualität. Ist der Künstler Sebastian Bieniek ein Seher?
Sebastian Bieniek: Tja, um ehrlich zu sein: Ich finde es selbst erschreckend. Manches ist gar nicht so einfach zu erklären, und es braucht manchmal mehr Kraft und Aufwand, eine Erklärung zu finden, als einfach eine „höhere Kraft“ zu akzeptieren. Ich hatte zum Beispiel letzten Monat eine Verabredung mit dem Kunstsammler Stefan Haupt. Wir haben uns zum ersten Mal bei ihm getroffen, und zwei Tage später spaziere ich im Prenzlauer Berg herum – und vor mir liegt ein ungeöffnetes Packet. An wen war es adressiert? An Stephan Haupt! Zufall? Was sonst! Doch mit Mathematik kommt man da nicht weiter, denn wie wahrscheinlich ist das denn? Aber ja, 2013 wurden meine Masken-Fotos bekannt, kurz danach, 2014, habe ich ein Oeuvre unter dem Namen Bieniek-Hand zu entwickeln versucht, in dem lauter Hände Körper, Fotos und Gemälde bedeckten. Und jetzt in der Corona-Zeit fügt sich beides zusammen: Die Maske und der Handschuh.
UUW: Noch vor der Corona-Krise hast Du eine neue Werkreihe Barrier Tape Art / Absperrbandkunst angefangen. Was hat Dich dazu bewogen, die weiß-roten Absperrbänder in Verbindung mit andern Stoffen wie Holz, Beton, Metall dafür zu nutzen? Woher stammt das Material? Sind das Fundobjekte?
Sebastian Bieniek, Manualisation 9, 2017, © Sebastian Bieniek
SB: Beides. Fundobjekte und von mir Hergestelltes. Ich weiß gar nicht genau, wann es angefangen hat. Es ist ja nicht so, dass eine derartige Idee von einem Tag auf den anderen kommt. Ja, manchmal schon, aber meistens gärt das sehr lange. Wann der allerfrüheste Anstoß gekommen ist, weiß ich nicht. Das ist genauso wie mit der Frage: „Ab wann warst Du Künstler?“, oder „Ab wann warst Du schwul?“. Es müssen immer mehrere Faktoren zusammenkommen. Viele von ihnen existieren von Anfang an eine Zeit lang nebeneinander, und dann gibt es den springenden Punkt, an dem sich all diese Faktoren kreuzen. Das ist dann wie ein Ruf: „Jetzt! Jetzt! Jetzt oder nie!“, den ich immer im Bauch spüre. Ich kann auch so tun, als ob ich intellektuell wäre, aber eigentlich kommt alles immer nur aus dem Bauch. Die Intelligenz ist nichts als die Sahne, die obendrauf auf den Kuchen kommt, damit es besser aussieht. Es fällt leichter zu akzeptieren, dass ein anderer etwas erreicht, weil er größere Muskeln hat, fleißiger oder meinetwegen intelligenter ist, also Sachen, die man wiegen oder irgendwie messen kann; aber das ist meiner Meinung nach Quatsch. Die Dinge passieren, weil sie passieren wollen, nicht weil wir es wollen. Stell sie Dir einfach wie kleine Männchen vor, für die wir Menschen so etwas wie Rennpferde sind, die sie untereinander tauschen, mit denen sie handeln und die sie lenken.
UUW: Kommen wir zu Deiner Barrier Tape Art zurück. Diese Absperrbänder, die Baustellen markieren, sind weiß-rot. Das sind auch die Nationalfarben Polens, jenem Land, aus dem Du stammst. Gibt es da einen Zusammenhang?
SB: Nun, es gab einen bestimmten ersten Punkt, an dem ich dachte: „Du wirst jetzt auf jeden Fall irgendwann eine Arbeit machen, in der weiße und rote Komponenten zusammenkommen.“ Diesen Punkt kann ich ziemlich genau benennen. Es war Anfang November 2016. Ich war zum ersten Mal in Südamerika, zum ersten Mal in Quito, ich hatte dort eine Ausstellung und einen Lehrauftrag in der PUCE-Universität. Am Wochenende führte mich einer meiner Studenten durch die Stadt. Wie man das so tut, ging ich auch in eine der vielen prunkvollen Kirchen rein. Ich kenne mich ja ziemlich gut mit Kirchen aus. Wer aus Polen kommt, musste ja seine gefühlte halbe Kindheit in Kirchen verbringen. Diese alte barocke Kirche in Quito war aber ganz anders, als alle Kirchen, die ich bisher gesehen habe. Alles war dort zwar so, wie in typischen katholischen Kirchen, nur die Jesus-Skulptur wirkte seltsam … „Was ist mit dem los?“, fragte ich mich. Der Typ trieft ja geradezu vor Blut. Überall, wo es nur ging, war ein fetter Haufen üppiger, strahlender, roter Farbe auf seine tote weiße Haut aufgetragen. Man sah förmlich, dass der Künstler viel Spaß dabei gehabt haben muss, ihn so richtig mit roter Farbe zu bedienen. Ich dachte: „Das ist irgendwie krass.“ Alleine schon das Bild hatte es in sich, aber auf eine abstrakte Art. Es war ja nicht mehr realistisch mit so vielen Wunden überall. Doch abgesehen davon: Irgendwie scheint mich das Thema tatsächlich zu verfolgen.
Sebastian Bieniek, Framed Barrier Tape Art 1, 2020, © Sebastian Bieniek
UUW: Nicht etwa erst seit 2016?
SB: Nein, schon viel früher, denn ich habe 1999 meine erste Performance in Berlin, damals in Postfuhramt, gemacht und mir – unter dem Titel Hand without a Body – jeden Tag einen Schnitt in den Arm zufügen lassen. Nach 16 Tagen war der Arm mit Blut und Narben übersät … Ich wollte es danach nicht mehr so ernst nehmen mit der Kunst, mich ihr aus einer anderen Richtung annähern, aber die Energie bleibt. Das ist wie ein Geheimnis, warum die eigenen Sensoren bei bestimmen Sachen ausschlagen und bei anderen nicht. Als würde es einen Weg geben oder als würde man eine unsichtbare Wünschelrute in den Händen halten.
UUW: Vor einigen Tagen hast Du auf Facebook verkündet, dass Du die Skulptur „Barrier Tape Art Sculpture No. 1“ für 150.000 Euro verkauft hast. Stimmt das? Oder ist das eine Deiner subversiven Aktionen, wo Du Dich über die Mechanismen des Kunstmarkts lustig machst?
SB: Das stimmt. Und obwohl es stimmt, kann ich mich ja trotzdem darüber lustig machen. Ich mache mich ja gern lustig. Ich finde es schön, die Dinge als lustig zu betrachten, egal, ob sie denn nun so oder so sind. Ich würde trotzdem – zumindest versuchen – sie für „lustig“ zu halten. Wer will denn schon als „ernst“ oder „traurig“ oder sonst wie wahrgenommen werden, wenn er auch als „lustig“ empfunden werden kann?
Sebastian Bieniek mit Barrier Tape Art Sculpture 1, die er für 150.000 Euro an einen Sammler im Nahen Osten verkauft hat. Foto © Sebastian Bieniek
UUW: Was ist das für ein Gefühl, plötzlich ein wohlhabender Mensch zu sein?
SB: Wohlhabend ist nicht das richtige Wort. Erstens habe ich inzwischen bedeutende laufende Ausgaben, und zweitens hat jeder Hausbesitzer in Deutschland mehr als ich. Ich habe nämlich kein Haus, und mit dem Geld kann ich mir in der Nähe von Berlin leider noch lange kein Haus leisten; ich habe mich schon erkundigt. Selbst wenn ich zehn solcher Werke verkaufen würde, würde ich – abzüglich der Steuer – dafür nicht genug Geld haben. Das ist, um ehrlich zu sein, frustrierend, denn ich glaube nicht, dass ich zehn solcher Dinger verkaufen werde, wobei: Wer weiß? Schlecht wäre es nicht.
UUW: Wie verhältst Du Dich in Ausnahmesituationen? Haben die Corona-Krise und die damit verbundenen Restriktionen Dein Leben und Deine Arbeit verändert?
SB: Ich werde in Ausnahmesituationen wacher, konzentrierter und fokussierter. Eigentlich sind Ausnahmesituationen für mich wie Wasser für die Fische. Ich komme in Hochform. Während all die anderen den Kopf verlieren, sehe ich klarer als jemals zuvor. Ich sehe plötzlich Wege und Möglichkeiten, die ich davor nicht gesehen habe, und vor allem: Ich kann sie gehen. Deshalb ist eine Ausnahmesituation für mich wie eine Grenzöffnung. Ich empfinde sie nicht als Einschränkung, sondern als Befreiung. Denn tatsächlich werde ich im „normalen Leben“ vor allem von anderen Menschen eingeschränkt. Wenn diese Menschen plötzlich nicht da sind, weil sie Angst haben, dass die Welt untergeht, und sie sich in ihrem Kämmerchen verbarrikadieren, dann fühle ich mich richtig befreit. Befreit von all den Bürokraten, Aufpassern, Menschen, die meinen, dass es nur so und nicht anders gehen darf. Ohne diese Menschen geht alles – und auf jede erdenkliche Art. Das ist toll!
UUW: Was müsste geschehen, damit Du auf Deine künstlerische Arbeit verzichtest? Gibt es Alternativen für den Lebensunterhalt?
SB: O ja, für zehn Millionen in bar auf die Kralle würde ich Kunst nur noch heimlich machen. Oder ich könnte Kunst machen und so tun, als wäre es keine Kunst. Also quasi das, was viele machen, nur umgekehrt. Ich weiß nicht … Ist das eine Antwort?
UUW: Das sind mindestens zwei Antworten. Und nun noch eine letzte Frage: Kannst Du Dir ein Leben ohne Kunst vorstellen?
SB: Nein, solange man aus einem Furz Kunst machen kann (und solange ich keine zehn Millionen bekomme), kann ich es mir nicht vorstellen. Ich will damit sagen, dass gerade ein New Yorker Parfümunternehmen einen Duft, von mir inspiriert und nach mir benannt, entwickelt. Auch das ist die vollste Wahrheit. Manchmal passt es nicht mal in meinen eigenen Kopf rein, was alles tatsächlich wahr und was alles Kunst ist. Irgendwie ist alles alles.
Sebastian Bieniek (* 1975 in Czarnowąsy bei Opole in Polen, lebt in Berlin) studierte Freie Kunst an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und an der Universität der Künste Berlin, wo er 2002 bei Katharina Sieverding einen Abschluss als Meisterschüler machte. Danach absolvierte er ein Regiestudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Mit der Werkgruppe Doublefaced schaffte er den internationalen Durchbruch. In seinem künstlerischen und schriftstellerischen Werk (Realfake, Tenletters Verlag, 2011, 320 S.) geht Sebastian Bieniek der Frage nach, wie Virtualität die Realität und das Individuum beeinflusst und verändert.
Weblinks:
www.b1en1ek.de
www.absperrbandkunst.com
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