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Kult, Krach & Kitsch: Pauline Curnier Jardin im Hamburger Bahnhof

von Urszula Usakowska-Wolff (07.06.2021)
vorher Abb. Kult, Krach & Kitsch: Pauline Curnier Jardin im Hamburger Bahnhof

Pauline Curnier Jardin. Fat to Ashes, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart - Berlin, 2021 (c) Nationalgalerie - Staatliche Museen zu Berlin / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Mathias Völzke

Eine monumentale Rotunde thront inmitten der historischen Halle des Hamburger Bahnhofs. Sie sieht wie eine überlebensgroße Marzipantorte in Form des römischen Kolosseums aus. Die Fensterbögen sind auf der Vorderseite mit fließendem rosafarbenem Stoff verkleidet. Er wellt sich durch den ganzen Rundbau und ist auf der Rückseite zusätzlich mit einem kunstvoll drapierten weißen Vorhang geschmückt. Laute Musik, Gesänge, Gesprächsfetzen und angsterfülltes Quieken dringen nach außen. Für ihre Ausstellung Fat to Ashes ließ Pauline Curnier Jardin (* 1980 in Marseille, lebt in Berlin und Rom), die Gewinnerin des Preises der Nationalgalerie 2019, ein Haus im Haus bauen, ein temporäres Kino mit einem riesigen Bildschirm, über dem zwei wie Brüste anmutende Kuppeln schweben. Das Publikum – jeweils fünf Personen dürfen sich auf einmal im Saal befinden – sitzt auf den Stufen der Tribüne und betrachtet über eine Viertelstunde lang den weißen Screen. Da sich sonst nichts ereignet, gibt es viel Zeit, um das zauberhafte Ambiente zu genießen und das Gefühl zu haben, in einer Manege unmittelbar vor einer Zirkusvorführung zu sein, zumal auf dem glänzenden Boden Sägespäne und Konfettis liegen.


Pauline Curnier Jardin, FAT TO ASHES, 2021, Filmstill © Pauline Curnier Jardin / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Spektakel des Lebens und des Todes

Doch das, was dann endlich über den Bildschirm läuft, lässt den zeitweiligen Zauber verfliegen. Für to Ashes (Von Fett zu Asche) filmte Pauline Curnier Jardin Anfang des vorigen Jahres drei große Spektakel aus dem wahren Leben: Das alljährlich stattfindende Fest der heiligen Agatha in Catania, die Schlachtung eines Schweins in einem nicht genannten italienischen Dorf und den Weiberfastnachtsumzug in Köln. Der Film beginnt in der prunkvollen Cattedrale di Sant´Agata in Catania, wo viele Reliquien der Heiligen, darunter ihre mit Juwelen reich verzierte Schädeldecke, aufbewahrt werden. Nach dem Gottesdienst, gefilmt von hunderten Handys, strömen die Massen auf die Straßen, um der Schutzheiligen ihrer Stadt zu gedenken. Der Legende nach wurde Agatha als Tochter wohlhabender Eltern um 225 in Catania geboren. Die gottgeweihte und auffallend schöne Jungfrau lehnte den Heiratsantrag des heidnischen Statthalters der Sicilia, Quintinianus, ab, der sie daraufhin in ein Freudenhaus steckte, wo sie sich ihre Jungfräulichkeit auch nicht nehmen ließ. Als Christin verweigerte sie sich weiterhin der Ehe mit dem Statthalter, sodass ihr auf dessen Geheiß die Brüste abgeschnitten wurden. Doch auch danach war Agatha immer noch am Leben, also wurde sie mit brennenden Fackeln gefoltert, dann auf glühende Kohlen gelegt, wonach sie im Alter von 25 Jahren qualvoll starb. Etwa ein Jahr nach ihrem Tod brach der Ätna aus, und die Einwohner von Catania hielten den Schleier der Gottesbraut dem Lavastrom entgegen, der daraufhin zum Stillstand kam. Die Darstellungen der Märtyrerin, die ihre abgeschnittenen Brüste auf einem Tablett trägt, sind ein beliebtes Motiv der spätmittelalterlichen und barocken Kunst. Als Patronin der Ammen, Hebammen, Goldschmiede, Glockengießer, Glaser und anderer Zünfte sowie als Helferin bei Krankheiten der Brüste, Fieber, Brandgefahr, Hungersnot, Unwetter, Viehseuchen und Erdbeben kann sie sich über den Mangel an Aufgaben nicht beklagen.


Pauline Curnier Jardin, FAT TO ASHES, 2021, Filmstill © Pauline Curnier Jardin / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Chaotisch, rasant, bedenklich

Die Festa di Sant´Agata ist ein religiöses und zugleich profanes Großereignis, das (seit über 500 Jahren) in Catania mit Prunk und Pomp gefeiert wird. Pauline Curnier Jardin begleitete es 2020 mit der Kamera, ohne das Gefilmte zu kommentieren. Nach einem Gottesdienst in der Kathedrale wird Agathas mit Gold und Edelsteinen geschmückte Silberbüste durch die Stadt gezogen. Männer tragen große Kandelaber – Kerzen mit Szenen ihres Martyriums. Zu dem barocken Edelkitsch gesellt sich der heutige volkstümliche: Unzählige bunte Luftballons, Konfettis, Lichterketten, Buden mit Devotionalien, Andenken, Speisen und Getränken säumen die Prozession. Es herrscht ein unglaubliches Gedränge, es wird getanzt, gesungen, gegessen und getrunken. Eine der kulinarischen Spezialitäten sind Minne di Sant´Agata – Brüstchen der heiligen Agatha, mit Ricotta gefüllte Törtchen, überzogen mit einer Eischneeglasur und einer kandierten Kirsche obenauf: Glaube und Aberglaube gehen durch die Leber und durch den Magen. Das Tempo des Films wird immer rasanter und chaotischer, es spiegelt das Verhalten der Feiernden wider. Während sie so richtig die Sau rauslassen, schiebt sich ein riesiges angsterfülltes Mastschwein ins Bild: unmittelbar vor, bei und nach der Schlachtung. Zu sehen sind zum Glück recht undeutliche, körnige schwarzweiße Filmsequenzen, die zeigen, wie es von einem unsichtbaren Schlachter getrieben, gefesselt, mit dem Messer erstochen, auf einen Haken gehängt und aufgeschlitzt wird. Blut und Fett fließen, und es stellt sich die Frage, was das „humane“ Ritual einer anonymen Hausschlachtung mit Agathas Martyrium zu tun hat? Schlachtfest als Pendant zum Kirchenfest? Bedienung des Voyeurismus und der Gewaltfantasien? Zum Nachdenken bleibt jedoch keine Zeit, denn gleich folgen heitere Szenen der Kölner Weiberfastnacht, der vor allem Krawatten unblutig zum Opfer fallen. Nach 21 Minuten löst sich die Bilderflut und Kakophonie auf und der Bildschirm ist wieder weiß wie eine Tabula rasa.


Pauline Curnier Jardin. Fat to Ashes, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart - Berlin, 2021 (c) Nationalgalerie - Staatliche Museen zu Berlin / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Mathias Völzke

Ausgelassen in den Straßen

Pauline Curnier Jardins Installation Fat to Ashes ist ambivalent und weckt Gefühle, die zwischen Faszination und Aversion schwanken. Am Beispiel von Catania und Köln führt sie vor, wie die katholische Kirche ein großes Theater inszeniert, in dem sie breite Volksmassen mitspielen lässt. Der religiöse Kult ist ein Vorwand für die Befriedigung wichtiger Bedürfnisse: nach Nähe, Gleichheit, gemeinsamem Erleben, Zusammengehörigkeit, Genuss, Unterhaltung, Ausschweifung, Narretei und Ausgelassenheit. Die Alltagsregeln gelten nicht. Es gehört zum guten Ton, Krach zu machen, sich am Alkohol zu berauschen und mit Agathas Brüstchen, Bratwürsten oder Kamellen vollzustopfen. Nach dem Fettdonnerstag, wie mancherorts die Weiberfastnacht genannt wird, kommt der Aschermittwoch und da ist sowieso für einige Zeit alles vorbei. Der Titel der Installation soll wohl auch eine Metapher des Diesseits und Jenseits sein, in der sich das Fett auf die Energie des Lebens und die Asche auf den Tod beziehen.


Ausstellungsansicht: Pauline Curnier Jardin, Feel Good, Ausstellung Fat to Ashes, 2021, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin. Foto Urszula Usakowska-Wolff

Säulen des Wohlbefindens

Von den feiernden Massen auf Catanias und Kölner Straßen führt an Rom kein Weg vorbei: Die Säulen auf der linken Seite der historischen Halle des Hamburger Bahnhofs hat Pauline Curnier Jardin mit kleinen Zeichnungen, Schaumstoff und gesegneten, zum Teil riesigen Kerzen dekoriert, die während der Prozession zu Ehren der heiligen Agatha in Catania getragen werden. Nicht ohne Grund sehen die stehenden und liegenden Objekte unter dem Titel Feel Good wie Vaginen, Penisse und Ani aus. Sie knüpfen an die Motive der Zeichnungen an, die in einem Workshop der Künstlerin mit römischen Prostituierten während des Lockdowns im Frühjahr 2020 entstanden. Es ist unverkennbar, dass sie auf die Sexarbeit, ihre einzige Einnahmequelle, aus Angst vor dem Corona-Virus oder den Behörden verzichten mussten und ihren Job unverblümt in Bild und Wort darstellen. Sex Hard And Relax steht auf einem Blatt mit Brüsten und einem Phallus, Pussy, Sex, Cock, Hot, Fetish, Shemale auf einem anderen, mit Dollar-, Eurozeichen und einem schwarzen Plateau-Pump bebildert. Da sie dafür wie von Freiern bezahlt wurden, gründeten sie die Feel Good Cooperative und teilen sich die Gewinne aus dem Verkauf der Zeichnungen. Die angehenden Künstlerinnen werden den Sound des Straßenstrichs mit Geräuschen quietschender Autos und dem Klackern der High Heels auf dem Pflaster, der aus den in die Säulen eingebauten Kirchenlautsprechern fließt, wohl nicht vermissen. Das ist die süßeste Kirsche auf Pauline Curnier Jardins Torte im Hamburger Bahnhof.

Pauline Curnier Jardin
Fat to Ashes
bis 19. September 2021
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin
Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin
Sa–So 11–18 Uhr; Di–Fr 10–18 Uhr; Mo geschlossen
www.smb.museum

Urszula Usakowska-Wolff

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