Vor dem Restaurant des Hamburger Bahnhofs bildet sich eine lange Schlange. An den Tischen vorbei und die Treppe hinauf werden am Eingang der Ausstellung OFF SCORE der in Berlin lebenden Künstlerin Annika Kahrs Kopfhörer ausgegeben. Genau 70 davon stehen bereit, für genau 70 Besuchende. Dieser kleine organisatorische Umstand prägt das erste Ausstellungserlebnis: Es beginnt mit einem bewusst gesetzten Moment des Wartens und der Erwartung.
Im Inneren präsentiert sich die Ausstellung zurückhaltend. Der lange Raum ist durch lichtdurchlässige Stellwände aus Kunststoff in drei klar voneinander getrennte Bereiche gegliedert, die Wände sind in einem warmen Rostrot gestrichen. Ein erster Bereich fungiert als Vorraum, der mit Text- und Filmmaterial in die Arbeitsweise von Annika Kahrs einführt. Die visuelle Reduktion lenkt den Blick sofort auf die Bildschirme, die zugleich die akustischen Zentren der Ausstellung bilden. Hier wird ihre künstlerische Haltung sichtbar: das genaue Beobachten sozialer Situationen, das Interesse an Räumen, die von Menschen und ihren Klängen geprägt sind, und das Spiel mit Zusammenhängen, die mal inszeniert und mal zufällig wirken.
OFF SCORE markiert die bislang umfangreichste institutionelle Einzelausstellung der Künstlerin. Sobald man sich einem der Bildschirme nähert, aktiviert sich automatisch die Tonspur der jeweiligen Arbeit. Dieses unmittelbare Einschalten der akustischen Ebene verleiht jeder Annäherung an die Videos eine performative Qualität: Die Besuchenden lösen das aus, was sie gleich hören werden. In den Filmen selbst werden Räume zu Resonanzkörpern, die für die Dauer der Inszenierung eine neue klangliche aber auch soziale Funktion entfalten.
In Le Chant des Maisons (2022) begegnen sich Musiker*innen und Handwerker*innen in einer entweihten Kirche. Die Stimmen, Geräusche, Instrumente und Werkzeuge verschränken sich zu einer instabilen Klanglandschaft. Aus sakralen und profanen Lauten entsteht eine Kakophonie, die keineswegs zerstörerisch wirkt, sondern den Ort neu auflädt: Die Kirche, ihres ursprünglichen Zwecks beraubt, wird zum temporären Zentrum einer Gemeinschaft, deren Zusammenhalt sich aus der geteilten akustischen und performativen Erfahrung ergibt. Das Video macht sichtbar, wie Klang soziale Beziehungen und Zusammenhänge stiften kann – und wie fragil und beliebig diese sind.
Die Arbeit A Cashier’s Opera (2025), eigens für die Ausstellung im Hamburger Bahnhof produziert, erweitert diesen Ansatz. Kahrs wählte mehrere Berliner Kaufhäuser als Schauplätze, Orte also, die stark vom strukturellen Wandel geprägt sind. In den Filmen begegnen sich Angestellte der Kaufhäuser und professionelle Musiker*innen. Im Zusammenspiel entsteht eine Art situatives Musikstück, eine Performance, die sowohl die Architektur als auch die ökonomischen Bedingungen der Orte reflektiert, in denen sie aufgeführt wird. Die Arbeit thematisiert, wie Klang und Arbeit ineinandergreifen können, und verleiht Räumen eine neue Intensität, die im Alltag kaum wahrgenommen wird.
Begleitend zu den Videoarbeiten finden in den historischen Räumen des Hamburger Bahnhofs sowie an ausgewählten Orten in Berlin Performances und ein Begleitprogramm statt. Besonders im Museum selbst entstehen so überraschende Situationen: Besuchende treten in Performances ein und werden zu Mitwirkenden der Klangspiele. Dokumentieren die Filme im eigentlichen Ausstellungsraum auch eindrucksvoll welche klanglichen und sozialen Konstellationen aus solchen Treffen hervorgehen können, lässt sich eine gewisse Ironie nicht übersehen: Das Tragen der Kopfhörer, das die präzise Wahrnehmung der Arbeiten ermöglicht, verhindert zugleich, dass sich im Ausstellungsraum eine vergleichbare, spontane Gemeinschaft zwischen den anwesenden Menschen bildet. Die Besuchenden bewegen sich gemeinsam, hören aber jeweils für sich allein.
Wer nach dem Besuch am Alexanderplatz vorbeikommt, kann im Obergeschoss des Galeria Kaufhof einen der realen Schauplätze von A Cashier’s Opera aufsuchen. Besonders am Abend bietet sich dort ein kontrastreiches Bild: Die weitläufigen Verkaufsflächen sind ruhig, beinahe still. Nichts erinnert daran, dass dieser Ort im Film zu einem akustischen Schauplatz geworden ist. Diese Stille bildet gewissermaßen den Gegenpol zur Ausstellung – und zeigt, wie sehr die Arbeiten von Annika Kahrs Orte noch einmal anders hörbar machen.
Parallel ist im Magdeburger Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg die Ausstellung Infra Voice von Annika Kahrs zu sehen. Dort beschäftigte sich die Künstlerin mit Infraschall, mit Frequenzen unterhalb von etwa 20 Hertz, die so tief sind, dass sie der Mensch im Gegensatz zu bestimmten Tieren kaum mehr wahrnehmen kann.
Annika Kahrs
OFF SCORE
14. November 2025 – 3. Mai 2026
Öffnungszeiten:
Di, Mi, Fr 10 – 18 Uhr,
Do 10 – 20 Uhr,
Sa + So 11 – 18 Uhr
Hamburger Bahnhof
Nationalgalerie der Gegenwart
Invalidenstraße 50
10557 Berlin
www.smb.museum






