Portrait Petrit Halilaj © Jacopo La Forgia

In den Rieckhallen begegnet man dieser Tage allerlei sonderbaren Wesen: Überdimensionalen Motten vor flackernden Glühbirnen, langbeinigen Vögeln mit seidigen Flügeln und solchen mit nur einer Feder als Körper. Man trifft auf die Schlange aus dem Garten Eden, auf Fuchs und Hahn als Verkörperungen des Liebespaares Adam und Eva ...
Wie ein Buch die Lesenden durch seine Geschichte führt, leitet die Ausstellung Petrit Halilaj. An Opera Out of Time die Besucherin durch Halilajs Bildwelt, die sich der Allegorie, dem Mythos und der Fantasie bedient. Erfahrungen mit Krieg, Flucht, Exil und kultureller Unterdrückung werden ebenso eingeflochten wie die Auseinandersetzung mit Queerness, Begehren und der Fluidität von Identität.

Petrit Halilaj. An Opera Out of Time ist die erste institutionelle Einzelausstellung des 1986 in Kostërrc, Kosovo, geborenen und in Berlin lebenden Künstlers in der Hauptstadt. Und es ist ein Glück, dass sie im Hamburger Bahnhof stattfindet: In den unterschiedlich großen ehemaligen Güterbahnhofshallen entfalten sich die einzelnen Kapitel, oder sagen wir: Akte, in denen kleinere Arbeiten ebenso zur Geltung kommen wie riesige Installationen, die den Raum in ganz eigene visuelle Welten verwandeln. Dabei greifen alle Elemente ineinander und veranschaulichen, wie Halilaj in seiner Kunst die Bedeutung gemeinsamer Erzählungen hervorhebt.
Sehr präsent sind Momente der Transformation sowie das Aufzeigen von Möglichkeiten eines Neubeginns. Da wären beispielsweise die Motten-Skulpturen Do you realise there is rainbow even if it’s night?!, die die Besuchenden empfangen und die immer wieder auftauchen. Sie entstanden 2016 in Zusammenarbeit mit der Mutter des Künstlers und haben als Flügel traditionelle kosovarische Qilim-Teppiche. Die Objekte dienen gleichzeitig als Ganzkörperkostüme, über die der Künstler mit seiner Umwelt auf neue Weise in Kontakt treten kann. Kurzzeitig schlüpft er in die Rolle einer Motte, einem Wesen, für das Licht gleichzeitig Anziehung und Bedrohung bedeutet. Als Falter eröffnen sich dem Künstler Möglichkeiten des „Wahrnehmens, Kommunizieren, Interagierens, ja des Denkens und Träumens (...), die ihm sonst verschlossen geblieben wären“, schreibt Kuratorin Catherine Nichols in ihrem Katalogtext.
Auch in She, fully turning around, became terrestrial (stolen canary), einem kleinen Kanarienvogel hinter einer Maske, geht es um eine Art der Selbsterschaffung: Als wiederkehrendes Motiv steht der Vogel für Freiheit und Aufbruch, seine Maske wird zu einem Schutz, hinter dem Anteile des Selbst Raum bekommen, die sonst in normativen Kontexten verdeckt bleiben.

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Ausstellungsansicht „Petrit Halilaj. An Opera Out of Time“, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, © Petrit Halilaj, 2025 / mennour, Paris, ChertLüdde, Berlin und kurimanzutto, New York und Mexiko-Stadt. Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Jacopo La Forgia

Wie in so oft in seinem Œuvre fällt in diesen beiden Werken die Auseinandersetzung mit Identität und die Beschäftigung mit der Geschichte seiner Heimat zusammen, die der Künstler und seine Familie aufgrund des Kosovo-Kriegs verlassen mussten. Ausgangspunkt sind die Schmetterlings- und Mottensammlungen des ehemaligen Naturhistorischen Museums des Kosovo. Als Folge der politisch erzwungenen Schließung der Institution Anfang der 2000er-Jahre wurden die Bestände größtenteils dem Verfall überlassen; Anlass für Halilaj Exponate aus dem Konvolut mitzunehmen. Teile der geretteten Sammlung tauchen nun in Halilajs Werk auf, so zum Beispiel der gelbe Kanarienvogel.
In diesem Kontext erinnern auch die Installation RU (Aves Migrantis) und das Video When they came here they found people (Adam and Eve) an die Bedeutung von kulturellem Erbe für kollektive Erinnerung und die damit einhergehende Vermittlung von Identität.

Aber: Wo materielle Kultur beispielsweise aufgrund von Plünderung und Zerstörung infolge von Krieg fehlt, wird die Vermittlung kollektiver Identität erschwert. Umso bedeutender werden mündliche Überlieferungen. Diese Tatsache ist in Halilajs Werk sehr präsent. Seine Theaterarbeit Shkrepëtima sowie die Oper Syrigana verdeutlichen Halilajs Ansatz, Geschichten zu bewahren und weiterzuerzählen und sie als Ausgangspunkte für Neuanfänge zu verstehen.
Beide Arbeiten wurden im Hamburger Bahnhof in raumgreifende Installationen übersetzt, die auf ihre Art den Inhalt der ursprünglichen Werke transportieren. Shkrepëtima wurde 2018 als Gemeinschaftsprojekt zwischen dem Künstler, den Bürger:innen und der Kunstszene vor Ort in seinem Heimatort Runik aufgeführt. Das Stück erzählt die Geschichte eines Jungen - halb Mensch, halb Vogel -, der von der Wiederbelebung der Ruinen des Hauses der Kultur träumt. Der Ort, ehemals Bibliothek, Theater, Kino, landwirtschaftliche Genossenschaft und Teehaus in einem, wurde 1989 vom serbisch-nationalistischen Regime geschlossen und 1999 im Krieg weitestgehend zerstört. Aktuell wird das Haus der Kultur in Runik dank der gemeinsamen Anstrengung von Halilaj, der von ihm gegründeten Hajde!-Stiftung, dem Kultusministerium des Kosovo, der Gemeinde Skënderaj und den Bürger*innen von Runik wieder aufgebaut.
Die Installation im Hamburger Bahnhof beinhaltet neben den Kulissen, einem Bühnenbild und den Kostümen der Schauspieler*innen auch Ziegelsteine der Ruine in Runik.
Die Oper Syrigana wurde von der Kosovo-Philharmonie in Auftrag gegeben und im Sommer 2025 in Syrigana unter freiem Himmel, also im nicht-institutionellen, ländlichen Umfeld, uraufgeführt. Das über 3.000 Jahre alte Dorf steht als archäologische Stätte der Frühgeschichte, Spätantike und des Mittelalters unter Denkmalschutz und liegt in der Region Drenica, die wiederum als Zentrum des skosovarisch-albanischen Widerstands galt. Noch heute ist der Ort geprägt von den Spannungen zwischen der albanischen und der serbischen Bevölkerung.

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Ausstellungsansicht „Petrit Halilaj. An Opera Out of Time“, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, © Petrit Halilaj, 2025 / mennour, Paris, ChertLüdde, Berlin und kurimanzutto, New York und Mexiko-Stadt. Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Jacopo La Forgia

Die zwei Räume, die sich der Oper widmen, führen anhand einzelner Elemente durch die Narration der Oper, so stehen überdimensionale Birnenblüten für das Paradies, und die mit Draht angedeuteten Umrisse von Helikoptern sollen nicht nur an die KFOR-Helikopter erinnern, die die NATO nach dem Kosovokrieg in Friedensmissionen einsetzte, sondern auch die Flucht von Adam und Eva versinnbildlichen.
Die Oper und die Installation greifen eine lokale Legende aus dem Kosovo auf, laut der Adam und Eva nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies in Syrigana ankommen und hier heiraten. Aus Adam und Eva wird allerdings das queere Paar Fuchs und Hahn, das nach Vertreibung und Exil in Syrigana ein neues Zuhause und gesellschaftliche Akzeptanz findet. So wird die Oper/Installation zu einer Geschichte, an deren Ende (queere) Liebe, Akzeptanz, Gemeinsamkeit und Neubeginn stehen.
Genau von diesen Dingen braucht unsere Gegenwart unbedingt mehr. Wie kommen wir dahin? Vielleicht beginnt es damit, Geschichten zuzuhören. Geschichten wie jenen, die Petrit Halilaj erzählt.

Ausstellungsdauer: 11.09.2025 bis 31.05.2026

Öffnungszeiten
Mo geschlossen
Di + Mi + Fr 10:00 - 18:00
Do 10:00 - 20:00
Sa + So 11:00 - 18:00

Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart
Invalidenstraße 50
10557 Berlin
www.smb.museum