Ausstellungsansicht, I Don’t Know What I Am, 2024, Foto: art-in-berlin

Der Hamburger Bahnhof hat sich in den letzten Jahren zu einem Ort entwickelt, der sich thematisch immer wieder neuen künstlerischen Positionen widmet und damit die Kunstwelt bereichert. Mit der Ausstellung Keep Walking von Mark Bradford setzt das Museum unter der Leitung von Sam Bardaouil und Till Fellrath diese Linie fort. Präsentiert wird eine Schau, die sowohl ästhetisch als auch inhaltlich überzeugt. Mit Bradfords erster Einzelausstellung in Deutschland werden zugleich die Rieckhallen wiedereröffnet, die für die Präsentation großformatiger, medienübergreifender Kunst optimal geeignet sind.

Mark Bradford, der bei der Pressekonferenz alle mit Handschlag begrüßt und durch seine warmherzige und offene Art sofort sympathisch wirkt, spannt in dieser Ausstellung einen Bogen über zwei Jahrzehnte seines Schaffens. Sein facettenreiches Œuvre umfasst Gemälde, Skulpturen, raumgreifende Installationen und Videoarbeiten. Es thematisiert die komplexen Verflechtungen von race, Diskriminierung, Geschlecht und ökonomischer Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Dabei ist Bradfords künstlerische Praxis von Kindheits- und Jugenderinnerungen an Los Angeles geprägt und reflektiert seine Erfahrungen als Schwarzer US-Amerikaner.

So basieren die beiden großformatigen Arbeiten I Don’t Know What I Am, 2024 (Ich weiss nicht, was ich bin) und You Don’t Have to Tell Me Twice, 2023 (Das musst du mir nicht zweimal sagen) im ersten Ausstellungsraum auf Zugfahrplänen. Die beiden Bilder befassen sich mit Bahnhöfen während der "Großen Migration" in den USA. Die Leinwände sind mit Zahlen und Städtenamen in rasterartiger Anordnung bedeckt, was an Landkarten erinnert. Bradfords Werke reflektieren hier die Thematik von Migrationen in der Geschichte - seien es Bewegungen auf der Suche nach einem besseren Leben oder erzwungene Vertreibungen. Die Assoziation zum Hamburger Bahnhof als einstigem Ort des technischen Fortschritts, der zugleich Schauplatz von Krieg und Deportationen war, liegt nahe. Andere Arbeiten wie die dreiteilige, multimediale Rauminstallation Pinocchio Is On Fire (2010/2015) thematisieren Schwulsein und die Aids-Krise der 1980er Jahre.

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Ausstellungsansicht, Float, 2019/2024, Foto: art-in-berlin

Wiederum andere Arbeiten wie zum Beispiel die 2017 für die Venedig Biennale entstandenen Skulptur Spoiled Foot oder die begehbare Bodenarbeit Float (2019/2024) werfen die Besucher*innen auf sich selbst zurück. Eine wulstige, von der Decke hängende Farbblase drängt das Publikum bei deren Umrunden an die Wand, lässt Enge und Bedrängnis spüren. Und die aus unzähligen Leinwandstreifen, Papieren und Seilen bestehende Arbeit Float beeinflusst unmittelbar die Wahrnehmung beim Durchqueren des Raumes. Man läuft vorsichtig, achtet darauf, nicht zu stolpern, will aber auch nicht stehen bleiben. Der eigene Körper rückt ins Zentrum oder er wird wie in der Videoarbeit Deimos (2015) aus dem Bild gedrängt.


Dauer: 0.40 min, Ausstellungsansicht, Deimos, 2015, 2019/2024, Video art-in-berlin

In einem rasanten Tempo rollen orange- und braunfarbene Rollschuhrädchen über eine offene Fläche. Die Räder sind abgetrennt von ihrem Schuhkörper und somit von denjenigen, die sie einst getragen haben. Zu hören ist dabei die verlangsamte Version des Disco-Hits Grateful, gesungen von der amerikanischen Sängerin und Queer-Ikone Sylvester, die an AIDS verstarb. Das gesungene Dankbar, ich bin so dankbar fühlt sich wie ein bitterer Kommentar zu den "tanzenden" Rädern. So ergibt der Titel Deimos Sinn, der die Personifikation der Angst in der griechischen Mythologie verkörpert.

Die weitläufigen Rieckhallen bieten den passenden Rahmen für eine immersive Erfahrung, in der skulpturale Interventionen sowie auditive und visuelle Elemente die Besucher*innen in die unterschiedlichen Themen einbeziehen. Bradford gelingt es, komplexe Themen auf eine Weise zu vermitteln, die für ein breites Publikum zugänglich ist. Seine Werke sind nicht nur visuell beeindruckend, sondern laden auch zum Nachdenken und zur Diskussion ein.

Über sein künstlerisches Schaffen hinaus engagiert sich Mark Bradford sozial als Mitbegründer der gemeinnützigen Organisation Art + Practice in Los Angeles, die sich der Förderung von Jugendlichen in Pflegefamilien und der Vermittlung zeitgenössischer Kunst widmet. Dieses Engagement spiegelt Bradfords ganzheitlichen Ansatz wider, der künstlerische Praxis und soziale Verantwortung symbiotisch verbindet.

Neben Keep Walking wird im Rahmen des neuen Konzeptes für die Rieckhallen das „Museum in Bewegung. Eine Sammlung für das 21. Jahrhundert“ u.a. mit Elmgreen & Dragset, Cevdet Erek, Anne Imhof, Jeremy Shaw und Jasmin Werner gezeigt.

Mark Bradford. Keep Walking
6. September 2024 – 18. Mai 2025

Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart
Invalidenstraße 50 - 51
10557 Berlin

www.smb.museum