Innenansichten einer Außenseiterin oder Außenansichten einer Innenseiterin
von chk (14.07.2024)
Studio Neu Delhi 1967, © NDR/pong film
Nächste Woche eröffnet in der Betonhalle des silent green die von Merle Kröger zusammen mit Mareike Bernien kuratierte Ausstellung “Die fünfte Wand”. Gezeigt werden Filme, Reportagen, Moderationen, Texte, Briefe und Fotos der Journalistin, Moderatorin, Autorin und Filmemacherin Navina Sundaram (1945–2022). Die in Shimla / Indien geborene Navina Sundaram war eine der ersten nicht-weißen Journalistinnen im deutschen Fernsehen. Journalistisch hat sie sich mit Menschenrechten, Migration und postkolonialer Entwicklung auseinandergesetzt sowie über indische und bundesdeutsche Politik berichtet.
INTERVIEW
Carola Hartlieb-Kühn: Unsere aktuelle Situation ist gekennzeichnet durch eine Vielfalt an Medien. Das Fernsehen ist heute nicht mehr das “Medium der Wahl”. Ist der “Komplex” Navina Sundaram bezogen auf die Fernsehgeschichte historisch einzigartig ?
Merle Kröger: Es geht nicht darum, Navina Sundarams Einzigartigkeit zu betonen, sondern sie als (einen besonderen und zeigenswerten) Teil bundesdeutscher Migrations- und Mediengeschichte zu highlighten. Wir möchten mit unserer Arbeit auch darauf verweisen, dass mutige und durch ihre Migrationsgeschichte einzigartig situierte Journalistinnen wie Sundaram oft von einer doppelten Unsichtbarmachung betroffen sind: als Migrantin und als Frau, und besonders im "White Boys´ Club" der politischen TV-Berichterstattung des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Natürlich verliert das Fernsehen gerade seine gesellschaftliche Rolle als "fünfte Wand" des Wohnzimmers, und dennoch sind Fragen nach journalistischer Ethik, dem Standpunkt der Betrachtung und der Glaubwürdigkeit von audiovisueller Berichterstattung heute vielleicht wichtiger denn je. In diesem Kontext erscheint Sundarams Aussage: "Ich habe immer einen Standpunkt gehabt", ihre spürbare Haltung zu Themen wie Dekolonisierung, Rassismus oder feministischen Themen wie Lichtblicke im Nebel der Gegenwart. Insofern kann sie auch über ihr Werk und ihre Lebenszeit hinaus einer jungen Generation von Medienmacher*innen, Forscher*innen und anderen Interessierten Halt und Hoffnung geben. Das erleben wir bei jeder Vorstellung des "Komplexes Sundaram", ob in Deutschland oder in Indien, von Neuem.
Carola Hartlieb-Kühn: Was war der Anlass, Navina Sundaram eine Ausstellung zu widmen ?
Merle Kröger: Das digitale Archiv
"Die fünfte Wand" ist wie eine geöffnete Tür in die Schatzkammer der Archive öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland, eine Intervention in bisherige Archivpraxis und der Versuch, die immense Wichtigkeit und den Reichtum solch offener Türen beispielhaft und zeitgemäß umzusetzen. Es ist ein Pionierprojekt, dem hoffentlich viele andere folgen werden und das vielleicht irgendwann dazu beiträgt, dass diese Archive zugänglich werden wie Bibliotheken. Im vergangenen Jahr erhielten wir erstmals während der
internationalen dokumentarfilmwoche hamburg die Einladung, diesen digitalen Archivraum in eine physische Ausstellungssituation zu übertragen, wenn auch viel kleiner als im
silent green. Mareike Bernien hat dafür ein Konzept entwickelt, das für Besucher*innen einen lebendigen "work space" öffnet, in dem sie sich aufhalten, austauschen, sichten und forschen können. Für die Betonhalle wurde dieses Konzept noch einmal erweitert. Hier geht es uns als Kuratorinnen und dem Team des silent green darum, ein Zeichen zu setzen und Sundarams Haltung als Diskursraum zu verstehen. Ihre filmischen Arbeiten, ihre Texte, Briefe und Fotos erstmalig in einem Raum zu versammeln, heißt für uns in Zeiten, in denen Begriffe wie Remigration, Reinheit der deutschen Sprache oder ein verengter Heimatbegriff salonfähig werden: Migration war und ist ein notwendiger und wertvoller Bestandteil jeder Gesellschaft, es ist im Sinne Sundarams möglich, sich nicht für eine (nationale) Identität zu entscheiden. Dafür hat sie bis zu ihrem Tod 2022 gekämpft, und diesen Kampf führen wir gerne mit ihr fort.
Navina Sundarams, Tagesthemen-Beitrag zur Bundestagsdebatte um Paragraf 218 (1991), © NDR/pong film
Carola Hartlieb-Kühn: Kannten Sie Frau Sundaram persönlich? Was war sie für ein Mensch ?
Merle Kröger: Ich habe Navina Sundaram 2004, direkt nach ihrem Weggang beim NDR, kennengelernt. Mareike Bernien kannte sie seit wir 2018 gemeinsam an diesem Projekt gearbeitet haben. Sie war eine beeindruckende Frau: scharfsinnig, manchmal auch scharf in ihren Äußerungen, großzügig und ungeheuer gastfreundlich. Ihr Hamburger Salon, wo sie unter den weltberühmten Selbstportraits ihrer Tante, der indischen Malerin Amrita Sher-Gil, Tee und Lemon Tarte servierte, war ein Ort, wo viel gelacht und hart diskutiert wurde. Hier las sie mir erstmals aus den Briefen vor, die sie zwischen 1964 und 1971, als sie mit gerade 19 Jahren nach Hamburg zog, um beim NDR eine Ausbildung zu machen. Bevor wir über die Arbeit am Archiv sprechen konnten, wurde immer erstmal die Tagespolitik besprochen, sie las täglich drei Zeitungen, hörte Radio, verfolgte die Nachrichten. Sundaram entstammt einer sehr bekannten indisch-ungarischen Familie von Künstler*innen und war sich dessen auch bewusst. Manchmal konnte sie eine echte Diva sein, um dann am nächsten Tag anzurufen, sich zu entschuldigen und ihrer Unsicherheit darüber Ausdruck zu verleihen, ob sich "so ein Aufwand" um ihr Werk und ihre Person denn überhaupt lohne. Wir waren glücklich, dass sie den Launch des digitalen Archivs und die nachfolgenden positiven Reaktionen darauf noch erleben und auskosten konnte. "I'm enjoying every bit of it", sagte sie einmal. Die Ausstellung bietet die Möglichkeit, sich in ihre Welt hineinzubegeben und sie in all ihren Facetten: als Journalistin, als Moderatorin, als Autorin, als Tochter und Schwester, als "first class immigrant" und als "Stimme des Südens" kennenzulernen.
Carola Hartlieb-Kühn: Es gibt bereits zu den Arbeiten von Navina Sundaram das umfangreiche Online-Archiv “Die fünfte Wand”. Für wen und warum ist dieses Archiv wichtig ?
Merle Kröger: Das Archiv entstand in einem Netzwerk mit dem Titel
"Archive außer sich" das vom Arsenal Institut für Film und Videokunst initiiert wurde, wo Stefanie Schulte Strathaus bereits seit vielen Jahren die politische und kulturelle Bedeutung einer transnationalen Archivpraxis in verschiedenen Projekten umsetzt, so z.B. der Archivbiennale
"Archival Assembly". "Die fünfte Wand" wird mittlerweile aktiv von Forschenden, Lehrenden und Kuratierenden genutzt und darüber hinaus auch erweitert.
Hier in Deutschland heißt das: Seminare an Universitäten finden damit und dazu statt - zwei davon werden auch zu Gast in der Ausstellung sein -, wir haben viele Einladungen von Kinos und Filmfestivals erhalten, Sundarams Arbeiten werden im Kunstkontext gezeigt, so z.B. derzeit in der großartigen Ausstellung
"There is not There There" im MMK Frankfurt a. M. Die Bundeszentrale für politische Bildung, die bereits die Realisierung mit unterstützt hat, veröffentlicht im Juli parallel zur Ausstellung ein Dossier zu "Die fünfte Wand", das sich speziell an Lehrende in Schule und Bildungsinstitutionen richtet. In Indien hatten wir 2023 die Möglichkeit, die englische Version an Universitäten und Goethe-Instituten vorzustellen. Rubaica Jaliwala hat dafür sogenannte "thematic walks" durch das Archiv entwickelt, die zeigen, wie man es z. B. in der interkulturellen Trainingsarbeit einsetzen kann. User*innen nutzen das Archiv aber auch, um einfach in die bundesdeutsche Fernsehgeschichte einzutauchen oder über bestimmte Themen oder Sendungen zu recherchieren.
Navina Sundarams Gastmoderation für den Panorama-Beitrag „binationalen Ehen“ (1982), © NDR/pong film
Carola Hartlieb-Kühn: Die Website “Die fünfte Wand” startet mit der Überschrift “Innenansichten einer Außenseiterin oder Außenansichten einer Innenseiterin”. Wie würden Sie die Innenansichten näher beschreiben?
Merle Kröger: Die Überschrift ist ein Wortspiel von Navina Sundaram. Sie liebte solche Wortspiele mit der deutschen Sprache. Es bedeutet, dass hier jemand mit den Begriffen "innen" und "außen" spielt und sie bewusst in Frage stellt. "Zwischen Baum und Borke" nannte sie es selbst. Konkret bedeutet das: Navina Sundaram war Zeit ihres Lebens mit dem Thema "Othering" konfrontiert: Sie sprach und schrieb perfekt deutsch, kaum jemand kannte sich in deutscher Innenpolitik oder internationaler Entwicklungspolitik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so gut aus wie sie. Und dennoch durfte sie immer dann vor die deutsche (Studio)-Kamera, wenn etwas einmal "mit anderen Augen" betrachtet werden sollte, oder wenn die Themen Migration und Asylpolitik verhandelt wurden. Korrespondentin für die ARD in Südasien zu werden verwehrte man ihr lange Zeit mit dem Argument, sie stünde diesen Ländern nicht "neutral" genug gegenüber, obwohl sie längst einen deutschen Pass besaß. Sie hat ihre Innenansichten aus dem Zentrum der Medienwelt - der Redaktion "Zeitgeschehen" dann später aktiv dafür eingesetzt, jungen Journalistinnen of colour den Einstieg zu ermöglichen und sich für mehr Diversität in den deutschen Medien einzusetzen. Sundaram war von Beginn an Unterstützerin der
Neuen deutschen Medienmacher*innen die zum Glück heute Mitlgiederzahlen im vierstelligen Bereich haben.
Carola Hartlieb-Kühn: Die Ausstellung ist in 5 thematische Bereiche unterteilt. Können Sie uns etwas über das zugrunde liegende Konzept erzählen ?
Merle Kröger: Es ziehen sich mehrere thematische Stränge durch das Werk Sundarams und somit auch durch das Archiv selbst. Diese haben wir für die Ausstellung verdichtet und auf fünf "Sichtungsinseln" verteilt, die neben den Filmen auch Kommentare und Manuskripte beinhalten. "Dekolonisierung" vereinigt Sundarams Beiträge zu den Dekolonisierungsprozessen des 20. Jahrhundert im globalen Süden: in Bangladesh und Indien, Guinea-Bissau und West-Sahara. Unter "Migration und Rassismus in der BRD" sind ihre innenpolitischen Beiträge und Dokumentarfilme aus den 1970er und 1980er Jahren zu sehen. Mit "Feministische Perspektiven" möchten wir zeigen, dass Sundaram, die sich nie als Feministin sah, sich doch aktiv und kontinuierlich mit der Rolle der Frau im politischen Gefüge der Welt auseinandergesetzt hat. "Politik in Indien" veranschaulicht eine weitere Innen-/Außen-Diskrepanz: Sundaram reiste immer wieder im Auftrag des NDR und WDR nach Indien, um von dort in beeindruckend komplexer Weise für das deutsche Publikum zu berichten. Mit "Kultur im Bild" zeigen wir aufregende Exkurse einer politischen Journalistin mit einer Leidenschaft für Kultur: ob in die Welt der Jazz-Sängerin Asha Puthli oder der Künstlerin Amrita-Sher-Gil.
Carola Hartlieb-Kühn: Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht Navina Sundarams langjährige Auseinandersetzung mit Migration, Geschlechterverhältnissen sowie postkolonialen Strukturen für das Medium Fernsehen heute ?
Merle Kröger: Das Medium Fernsehen steht vor enormen Wandlungsprozessen, wenn es als Medium überleben will. Dazu gehört die (zu?) späte Einsicht, dass migrantischen und post-migrantischen Journalist*innen nicht nur ein Platz in den Redaktionen zusteht, sondern dass nur so ein jüngeres, diverses Publikum von heute und morgen überhaupt erreicht werden kann. Dazu gehört die Erkenntnis, dass die öffentlich-rechtlichen Archive zugänglich werden müssen und eine neue Generation von Mediennutzer*innen dies auch einfordert, wenn das durch Gebühren finanzierte Modell erhalten werden soll. Navina Sundarams thematische und medienpolitische Auseinandersetzung in und mit dem Medium zeigt eine transnationale Persönlichkeit, die ihrer Zeit weit voraus war.
Carola Hartlieb-Kühn: Auch heute sind die Themen der Journalistin brandaktuell. Sie beide sind selbst Filmemacherinnen. Was bedeutet für Sie journalistische Ethik im Dokumentarfilm-Bereich ?
Merle Kröger: Wir arbeiten beide im Grenzbereich zwischen Film und bildender Kunst. Dort können wir uns viel mehr künstlerische Freiheiten erlauben, als Navina Sundaram sie im Fernsehen je hatte. Dafür bewegen wir uns in ganz anderen Resonanzräumen. Sie wählte bewusst das Zentrum der Macht: "...nicht die Macht über Menschen, das interessiert mich nicht, sondern die Macht über Programm. Die Macht über Mittel, um bestimmte Ideen durchzusetzen." Wir haben uns bewusst für die Peripherie entschieden. Was uns verbindet, ist vielleicht weniger eine journalistische Ethik als eine dokumentarische Praxis. Diese beinhaltet, die eigene Autorinnenschaft immer mitzudenken, komplexe Inhalte auszuhalten und umzusetzen, Denk- und Diskursräume mit dem Publikum zu schaffen.
chk
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