18:30 Uhr: Perspektiven auf den 7. Oktober W. Michael Blumenthal Akademie | Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz 1 | 10969 Berlin
Ein Film als Erinnerungsarbeit an eine bestimmte Zeit, hier das schwule West-Berlin der 1980er Jahre als Reminiszenz an einen Künstler, hier den Fotografen Jürgen Baldiga und ein politisches Statement - all das könnte der Dokumentarfilm von Markus Stein sein, wenn es ihm denn gelänge. Leider verirrt sich der Regisseur in der Vielzahl seiner Ansätze. Einen roten Faden hat der Film nicht, weder ästhetisch noch dramaturgisch, daran ändern auch die jeweiligen "Filmkapitel“ nichts.
Der 1994 an Aids verstorbene Jürgen Baldiga hielt auf seinen Fotografien eine krasse Gegenwelt zur sogenannten bürgerlichen Normalität fest. Der Sohn eines Bergarbeiters kam Ende der 1970er Jahre aus dem Ruhrgebiet nach West-Berlin. Stricher und Koch war er, doch erst in der Mauerstadt konnte er zu dem werden, der er sein wollte: Künstler.
Eine wilde Collage aus seinen Schwarz-Weiß-Fotografien, seinen Tagebuchaufzeichnungen, nachgestellten Spielfilm-Szenen, farbigen Super-8 Filmausschnitten und Interviews, versucht dieses Leben, die Erkrankung und das lange Sterben Jürgen Baldigas nachzuvollziehen, in Erinnerung zu bringen. Doch trotz all der gezeigten Drastik, bleibt einem der Künstler seltsam fern. Dabei wird der familiäre Hintergrund genau so beleuchtet, wie eine wohl entscheidende Begegnung mit dem zu der Zeit schon relativ berühmten Maler Salomé. Den Schwerpunkt legt der Regisseur jedoch auf die harten, kontrastreichen Fotografien des Künstlers, Bilder eines schwulen, heute würde man sagen, sexpositiven Mannes, der wie wohl kein anderer seine sexuelle Lust und Triebhaftigkeit schonungslos direkt dokumentierte.
„Kunst und Ficken, das ist mein Leben“, so lautet eines der zahlreichen im Film vorkommenden prägnanten Notate aus den Tagebüchern Baldigas (gesprochen von Maurice Läbe / einem Ernst-Busch Studenten). Tatsächlich war ihm das Schreiben ebenso wichtig wie das Fotografieren. Mitte der 1980er Jahre erkrankte Jürgen Baldiga an Aids. Ab da wurde das Fotografieren für ihn zur Obsession. Alle Stadien der Erkrankung, der körperliche Verfall, die Hautveränderungen durch Tumore, die Klinikaufenthalte, der kalte Entzug, alles, aber auch alles wurde festgehalten. Bis zuletzt fotografierte er sich selbst, oder ließ sich fotografieren.
Jürgen Baldiga wurde zum unerbittlichen Chronisten dieser Krankheit, die in den Anfangsjahren von Aids als unheilbar und tödlich galt und deren genaue Übertragungswege damals noch niemand kannte. Markus Stein befragte hierzu Ärzte und Krankenschwestern, die in dieser Zeit am AVK Kranke behandelten. Ihre Hilflosigkeit bzw. die ganze Dramatik rund um das Thema Aids wird in diesen Interviews einmal aus einer anderen Perspektive her aufgegriffen - was dem Film eine weitere szenische und thematische Drehung abverlangt. Und auch das Widerständige und die Solidarität innerhalb der Schwulenszene erhalten im Film breiten Raum. So werden zahlreiche Ausschnitte aus den Shows des Tuntenensembles „Ladies Neid“ und Interviews mit den damals Beteiligten eingebaut. „Ladies Neid“ gaben als erste Gruppe Benefizkonzerte für die Aidshilfe. Sie versuchten mit ihren Auftritten auch eine Ent-Tabuisierung des Themas. Vielleicht lag der Fokus des Filmemachers von Anfang an auf diesem „Kapitel“ der „Aidsgeschichte“. Zu zeigen, wie groß die anfängliche Verunsicherung war, wie viele Kämpfe hier stattfanden, vor allem aber, dass Solidarität letztendlich das Wichtigste war und ist, gerade in den Lebensräumen der sogenannten Subkultur.
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